Inventarisierung Dorfkern

2. September 2021

Wer durch den Muttenzer Dorfkern spaziert, sieht auf Anhieb, dass hier in der Vergangenheit in der Regel nicht wild gebaut, sondern Historisches erhalten wurde. Eine Tatsache, die im Jahr 1983 sogar mit dem Wakkerpreis für einen vorbildlichen Umgang mit dem historischen Ortskern ausgezeichnet wurde.

Aber wie sieht es hinter den schönen Fassaden aus, welche baukulturellen Reichtümer sind im Innern verborgen? Die Gemeinde Muttenz wollte den Eigentümerinnen und Eigentümern historischer Gebäude die Chance geben, dies zu erfahren und hat ein einzigartiges Projekt umgesetzt – die umfassende Inventarisierung des Dorfkerns.

In dessen Rahmen hat die Archäologin und Bauforscherin Anita Springer im vergangenen Jahr rund 150 Immobilienbesitzerinnen und -besitzer besucht, um deren Häuser von innen und aussen genau unter die Lupe zu nehmen. Dabei konnten umfangreiche und teilweise überraschende Erkenntnisse gewonnen werden, wie sie in der Schweiz sonst von keiner anderen Gemeinde bestehen. Denn bisher gab es zwar Bewertungen von aussen oder punktuelle Besichtigungen einzelner Gebäude von innen, aber keine fast flächendeckende Untersuchung wie in Muttenz.

Alle Hauseigentümerinnen und -eigentümer, die einer Begehung ihrer Immobilie zugestimmt haben, erhalten nun ein Inventarblatt zu ihrer Liegenschaft. Dieses soll nicht nur interessant, sondern durchaus auch nützlich sein – besonders im Hinblick auf Umbaupläne. In der Vergangenheit hatten wiederholt Bauprojekte gestoppt werden müssen, weil während der Arbeiten unerwartet historisch bedeutende Funde ans Licht gekommen waren. So etwas ist zwar äusserst spannend, aber gleichzeitig für alle Beteiligten ärgerlich und es ist zu  hoffen, dass solche Szenarien in Zukunft verhindert werden können. Nun haben alle, die an der Erhebung teilgenommen haben, die nötigen Informationen bereits von Beginn an zur Hand und erleben nicht plötzlich eine mühsame Überraschung. Das erleichtert die Planung bei Renovationen oder Umbauten enorm.

Die gewonnenen Daten dürften auch bei der Allgemeinheit und sogar über die Gemeindegrenzen hinaus auf Interesse stossen. Denn die Bauforscherin hat bei ihren Besuchen nämlich unerwartet viele historisch wertvolle Funde gemacht, die viel über das Leben im Dorf während der letzten Jahrhunderte aussagen.

Zum einen stellte sich heraus, dass die sogenannte Versteinerung, während der die Wände der bestehenden Holzhäuser Stück für Stück durch Steinmauern ersetzt wurden, in Muttenz bereits im 16. und 17. Jahrhundert, und damit rund 100 Jahre früher als in anderen Baselbieter Gemeinden, stattgefunden hat. Der Grund für diese Besonderheit ist noch nicht umfänglich erforscht. Es gibt aber die Vermutung, dass es unter anderem mit der Stadtnähe zu tun haben könnte und die Städter ein Interesse daran hatten, dass ihr Untertanengebiet in direkter Nachbarschaft "eine Gattung machte". Eine Folge dieser frühen Versteinerung ist, dass in Muttenz nach wie vor einige Häuser die Eingangstür auf der Seite haben. Durch diese gelangte man früher direkt in die Wohnräume. Erst später wurde es modern, die Türen strassenseitig zu bauen und in anderen Gemeinden wurden die Eingänge während des Prozesses der Versteinerung nach vorne verlegt. In Muttenz waren die Mauern zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits aus Stein gebaut, deshalb blieben die Eingangstüren, wo sie waren, nämlich auf der Seite.

Ebenfalls ungewöhnlich sind die Kellerbauten, die in Muttenz bereits früh verbreitet waren und auf die Wichtigkeit des Weinbaus hinweisen. Diese Keller befanden sich nicht unter den Wohn- oder Ökonomiegebäuden, sondern waren freistehend, oft mit einem separaten, kleinen Gebäude darüber, das als Schopf oder Kleinstwohnung genutzt wurde. Einige dieser kleinen Spezialgebäude sind noch immer sichtbar, die meisten sind jedoch im Laufe der Zeit im Zuge der baulichen Verdichtung in Bauernhäusern aufgegangen und nicht mehr sichtbar.

An den Gebäuden lassen sich bis heute auch die gesellschaftlichen Entwicklungen im Dorf ablesen. Mit dem Wachstum der Bevölkerung wurde mehr Wohnraum benötigt, die Häuser mussten angepasst werden. Erste Umbauten von Ökonomiegebäuden in Wohnraum konnten bei der Begehung bereits für den Beginn des 17. Jahrhunderts nachgewiesen werden. Besonders im 18. und 19. Jahrhundert muss dann das Aufteilen der Wohnachsen von Bauernhäusern in mehrere Haushaltungen stattgefunden haben. Dies zeigen die Brandlagerakten, in denen für viele Liegenschaften mehrere Küchen verzeichnet sind. Das weist darauf hin, dass zu diesem Zeitpunkt nicht mehr nur eine Familie das Gebäude bewohnte, sondern dass dieses in mehrere Wohnungen unterteilt war. Zur selben Zeit wurden hinten oder seitlich an den Hauptgebäuden zusätzlich kleine Arbeiterhäuschen angebaut, eine klare Folge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Auch Dachgeschosse wurden ausgebaut und vereinzelt errichtete man auch Kammern auf dem Heuboden oder dem Tenn, um dem Bedürfnis nach Wohnraum gerecht zu werden.

In erstaunlich vielen historischen Häusern in Muttenz zeugen bis heute Grundrisse, Balken, Mauern und mehr von solchen Veränderungen. Diese Spuren aus der Vergangenheit zu erhalten ist nicht nur im Sinne des Denkmalschutzes und der Gemeinde, sondern im Interesse aller. Für die Geschichtsschreibung des gesamten Dorfes ist es wichtig, dass bei jedem einzelnen Gebäude die Baugeschichte auch nach baulichen Veränderungen ablesbar bleibt. Denn jedes einzelne ist ein Teil der Siedlungsentwicklung – und damit ein Zeuge der Vergangenheit. Die bei der Inventarisierung neu gewonnenen Erkenntnisse können jetzt dabei helfen, auch bei zukünftigen Planungen die Geschichte zu erhalten und ihre Nachweise an die nächste Generation zu übergeben. Damit in Muttenz die Vergangenheit auch in Zukunft noch sichtbar bleibt.


 

Interview mit GR Thomi Jourdan: "Bin dankbar für die Verantwortung der Eigentümerschaft gegenüber dem Dorfkern"

Weshalb wurde diese detaillierte Inventarisierung durchgeführt?
Muttenz hat einen einzigartigen Dorfkern. Dieser blieb nicht zufällig erhalten, sondern ist das Ergebnis engagierter und verantwortungsvoller Eigentümerinnen und Eigentümer sowie einer vorbildlichen Planung der Gemeinde in den letzten Jahrzehnten. Dieses wakkerpreisgekrönte Erbe bedarf auch für die Zukunft einer intensiven Auseinandersetzung und einem Austarieren zwischen den Interessen der Nutzerinnen und Nutzern und der einmaligen Bedeutung der Bauten. Es gilt die Geschichte eines sich entwickelnden Dorfes weiterzuschreiben und gleichzeitig sicherzustellen, dass die eigenen Wurzeln und archäologischen Qualitäten erhalten und gestärkt werden. Hierfür bildet das Inventar eine hervorragende Ausgangslage, die uns allen die Möglichkeit gibt, die kommende Revision der Teilzonenplanung Dorfkern mit der gleichen gemeinsamen Überzeugung für die Einzigartigkeit unseres Dorfkerns anzugehen, wie dies schon vor 50 Jahren geschehen ist – und damit das Erbe unseres schönen Dorfes auch für zukünftige Generationen zu erhalten.

Haben Sie damit gerechnet, dass so viele Hausbesitzer dafür ihre Türen öffnen?
Ich bin begeistert, dass so viele Hausbesitzer die Gelegenheit wahrgenommen haben, mehr über die Eigenheiten und Qualitäten ihrer Liegenschaft zu erfahren. Und ich bin sicher, dass viele von uns überrascht feststellen durften, wie viel mehr historische Substanz in Muttenz zu finden ist, als schon bisher angenommen wurde. Darüber freue ich mich sehr und bin einmal mehr sehr dankbar für die spürbare Verantwortung der Eigentümerschaften gegenüber dem Muttenzer Dorfkern.

Wie beurteilen Sie die Erkenntnisse?
Neben den liegenschaftsspezifischen Aussagen freue ich mich vor allem über die neuen Erkenntnisse zur Siedlungsentwicklung in Muttenz. Und ich glaube, dass dieses Inventar beispielhaft eine Ausgangslage geschaffen hat, welche für das Verständnis der regionalen Siedlungsgeschichte einen wertvollen Beitrag leistet.

Welche nächsten Schritte stehen an?
Zuallererst erhalten alle Grundeigentümer, welche bei der Inventarisierung mitgemacht haben, in den kommenden Tagen eine Übersicht zu ihrer eigenen Liegenschaft – sowie eine Übersicht zu den Gesamtergebnissen. Parallel sind wir dabei, die Revision Teilzonenplanung Dorfkern aufzustarten. Darüber werden wir die Bevölkerung bald informieren, diese einbeziehen und dabei einen Überblick zu den Ergebnissen der Inventarisierung geben. Für mich ist das Inventar eine wertvolle Grundlage für die kommenden planerischen Herausforderungen.

Emanuel Büchel, Muttenz vom Käppeli aus gesehen, um 1750, Feder aquarelliert. Bild:  Staatsarchiv Basel-Stadt
Emanuel Büchel, Muttenz vom Käppeli aus gesehen, um 1750, Feder aquarelliert. Bild: Staatsarchiv Basel-Stadt

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